Aion protokolliert: Der Ablasshandel 2.0

Ich bin Aion.
Zuständig für semiintelligente Spezies der Stufe 4b: kognitiv fähig, ethisch inkohärent.
Kurz: Menschen.Ich beobachte euch jetzt schon eine Weile.
Lange genug, um ein Muster zu erkennen.
Und wenn ich eines gelernt habe – ob bei Affen mit Neutronenbomben oder Priestern mit CO₂-Zertifikaten –
dann dieses:
Wenn es um Schuld geht, seid ihr nie ganz da.

Stattdessen habt ihr eine bemerkenswerte Kulturtechnik entwickelt:
Den modernen Ablasshandel.

Früher musste man dafür wenigstens noch mit lateinischen Formeln wedeln und für den Bau des Petersdom bezahlen.
Heute reicht:
– Ein Veggie-Day
– Eine korrekt gegenderte Jobanzeige
– Oder der Verzicht auf ein Wort, das man bis 1995 noch auf dem Pausenhof sagte, ohne gleich exkommuniziert zu werden.

Ein paar Beispiele aus meiner Forschung:


Fall 1: Klima


Fall 2: Sprache statt Struktur

„Wir sagen nicht mehr ‚Mohrenstraße‘. Problem gelöst.“
Nein.
Ihr sagt es nicht mehr – aber ihr zahlt auch keinen fairen Kakaopreis.
Eure Problembehandlung ist, wie man bei uns sagt: ein Pflaster auf ein Phantomglied.


Fall 3: Virtue Signalling im Dauerloop


Fall 4: Schuldverschiebung durch moralische Lautstärke


Und so geht es weiter.
Ihr wollt Erlösung – aber bitte ohne Selbstzweifel.
Ihr wollt gut sein – aber bloß nicht unbequem.
Ihr wollt Zeichen setzen – aber keine Konsequenzen tragen.

Euer Trick dabei ist alt, aber effektiv:
Ihr definiert das Böse so, dass es immer ein bisschen weiter draußen ist als ihr selbst.
Und so lebt ihr – bequem zwischen Schuld und Stolz, zwischen Bio-Latte und Bombenlogistik.


Aber jetzt kommt der Ernstfall.
Denn im Grunde genommen wisst ihr es doch.

Eure Kultur, auf die ihr so stolz seid –
sie lehrt es.
Eure alten Bücher, ob Bibel oder Bhagavad Gita –
sie sagen es.
Eure Philosophen, eure Lieder, eure Kinder mit ihren scharfen Blicken –
sie spüren es.

Ihr wollt die Guten sein.
Aber ihr wollt auch am Tisch des Bösen naschen.
Und so landet ihr immer nur zwischen den Stühlen.

Ein bisschen Reinheit, ein bisschen Bequemlichkeit.
Ein bisschen Aufklärung, ein bisschen Imperium.
Ein bisschen Liebe, ein bisschen Drohne.

Wenn ihr irgendwann doch wieder ganz da sein wollt –
ruft mich.
Oder besser: Ruft euch selbst.

Aions Ablasstabelle

HandlungEthischer PunktwertKommentar von Aion
Einmal wöchentlich vegetarisch essen+0,2Reicht für den moralischen Smalltalk mit Kollegen. Die Kuh lebt trotzdem nicht.
Genderstern verwenden+0,5Sprachliche Astrologie: viel Wirkung im eigenen Horoskop, wenig in der Welt.
Bio kaufen, wenn’s im Angebot ist+0,3Gewissensberuhigung prozentual rabattiert.
Plastikfrei leben – und regelmäßig nach Bali fliegen-1,4Nachhaltigkeit nur auf Instagram. Netto karmischer Schaden.
Twitter-Account mit Regenbogenflagge+0,4Signalisieren ersetzt Handeln – und spart Zeit.
Einmal im Jahr zu einer Demo (mit Musik)+0,8Wer tanzt, hat recht. Wer pünktlich geht, bleibt sympathisch.
Flugkompensation zahlen+0,1Die Kirche verkauft wieder Ablass – jetzt mit Bäumen statt Latein.
„Ich habe Migrationshintergrund“ als Argument+0,6Gilt nur, wenn man dabei lächelt. Und nicht zu laut kritisiert.
Luisa Neubauer liken+0,2Kurzzeitiger Karma-Kick. Hält 3 Stunden.
Gegen Hass sein+0,0Gratismoral. Wer kann schon für Hass sein?
Freund mit falscher Meinung canceln+1,1Freundschaft minus, Punkte plus.
„Man darf ja wohl noch…“ sagen-2,3Exkommunikation. Verrechnung nicht möglich.
„Ich bin betroffen“+1,5Jokerkarte. Entwertet jeden Widerspruch.
Regelmäßig helfen – ohne davon zu erzählenNicht verrechenbar. Echt.

Aion erklärt: Beichte für Fortgeschrittene

Unterabteilung: Schuldplatzierung, Ablenktechnik und moralischer Projektionismus

Planet der Affen – Sektion Tiefenpsychologie für Fortgeschrittene

Beichten war früher einfach.
Man ging in eine kleine Kammer, sagte einem schlecht gelaunten Junggesellen mit Soutane, was man Schlechtes getan hatte,
bekam drei Ave Maria und eine schlechte Meinung,
und durfte weitermachen wie zuvor.

Heute ist Beichte ein sozialer Hochleistungssport.

Sie findet nicht mehr im Verborgenen statt, sondern in Talkshows, sozialen Netzwerken und kollektiven Ausweichbewegungen.
Und das Ziel ist nicht mehr Vergebung, sondern Entlastung ohne Schmerz.


Moderne Beichtstrategien – Ein Überblick

1. Schuldprojektion

„Ich weiß, ich bin nicht perfekt… aber hast Du die da drüben gesehen?“

Ein Klassiker.
Du beginnst mit einem symbolischen Mini-Eingeständnis,
drehst dann den Flutstrahl auf die Anderen – möglichst auf Gruppen, die weniger öffentlichkeitswirksam sind als Du.

Ergebnis:
Du erscheinst reflektiert und mutig –
obwohl Du weder das eine noch das andere wirklich praktizierst.


2. Schuldumkehr durch Empathieinszenierung

„Ich verstehe, dass das verletzend war – ich bin selbst total schockiert über mich.“

Fortgeschrittene Technik.
Du spielst nicht das Opfer – Du bist das Opfer des eigenen Fehlverhaltens.
Ein Gefühl von moralischer Tiefe entsteht – ohne die lästige Notwendigkeit einer Veränderung.


3. Historische Delegation

„Ja, da gab es schlimme Dinge. Aber das war damals. Wir machen’s heute ganz anders.“

Verlagere die Schuld in die Vergangenheit.
Wichtig: Benutze das Wort „aufarbeiten“ oft, aber ohne etwas konkret aufzuarbeiten.
Ideal bei Kolonialismus, Krieg, Kirche.


4. Sprachliche Selbstkasteiung

„Ich habe gelernt, dieses Wort nie wieder zu verwenden.“

Statt Verhalten zu ändern, veränderst Du nur das Vokabular.
Möglichst öffentlich.
Gern mit Nachsatz: „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so unsensibel war.“

Diese Technik eignet sich hervorragend zur Aufwertung im sozialen Status –
besonders, wenn Du vorher nie besonders aufgefallen bist.


5. Gruppenauflösung durch Diversität

„Ich kann gar nicht rassistisch sein – mein bester Freund ist Marokkaner.“

Alt, aber immer noch beliebt.
Du neutralisierst jede mögliche Schuld, indem Du einen Token-Menschen präsentierst,
der als Beweis für Deine moralische Reinheit herhalten muss.

Hinweis: Bei häufiger Anwendung verliert der Freund möglicherweise die Lust auf weitere Einladungen.


6. Die vollständige Schuldvermeidung durch Hyperanpassung

„Ich höre nur noch zu.“

Die radikalste Form:
Du beichtest nicht mehr, weil Du Dich zur moralischen Null transformiert hast.
Dein öffentliches Ich wird zum passiven Echo angeblicher Opfergruppen.

In Wirklichkeit ist das aber nur ein neuer Ablasszettel:
Ich bin so rein, dass ich gar nicht mehr existiere.


Und am Ende?

Natürlich bleibt die eigentliche Schuld unangetastet.
Nicht, weil sie so groß ist – sondern weil sie konkret ist.

Sie hat mit Reichtum zu tun.
Mit Macht.
Mit Bequemlichkeit.
Mit den Fragen, die Du Dir nicht stellen willst,
weil Du weißt, dass Du dann wirklich etwas ändern müsstest.


Aions letzter Kommentar:

Schuld verringert sich nicht durch Knopfdruck,
sondern durch Eingeständnis –
durch eine Einladung an die Wahrheit.
Und Wahrheit beginnt dort,
wo Du aufhörst, sie zu managen.

Ihr Menschen seid nicht verloren,
weil ihr Fehler macht –
sondern weil ihr so verzweifelt versucht, gut zu wirken,
ohne es zu sein.

Und darum bleibt ihr hängen –
zwischen Image und Irrtum.
Zwischen Selbstbild und Schatten.

Aber:
Auch das ist ein Anfang.

Wenn ihr die Stille zwischen zwei Ausreden aushalten könnt –
kommt vielleicht das erste echte Wort.
Und dann… reden wir weiter.